TÜV-Verband

Technische Sicherheit in Europa

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Europa (© Rozol - Fotolia.com)

Die produktbezogene Technikregulierung in der EU basiert maßgeblich auf der Rechtsangleichungskompetenz der Gemeinschaft nach Artikel 114 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union). Diese Vorschrift ermächtigt den EU-Gesetzgeber zum Erlass harmonisierender Rechtsvorschriften, die das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes sicherstellen sollen. Durch die schrittweise Ablösung national divergierender Rechts- und Verwaltungsvorschriften für das Inverkehrbringen von Waren wird hiermit eine fundamentale Liberalisierung des europäischen Marktes erreicht.

Auf dieser Ermächtigungsgrundlage für die Rechtsangleichung hat die Gemeinschaft unter dem regulativen Ansatz der „Neuen Konzeption (New Approach)“ seit 1985 mehr als 25 sektorale Richtlinien erlassen, mit denen die grundlegenden Sicherheitsanforderungen an Produkte und Geräte europaweit einheitlich festgelegt werden. Diese grundlegenden Anforderungen sind im Wesentlichen in harmonisierten europäischen Normen festgelegt, die von den zuständigen Normungsorganisationen (CEN/CENELEC) aufgrund entsprechender EUMandate erarbeitet werden.

Das nationale Produktsicherheitsniveau wird somit in seinen Konturen durch einen europaweit einheitlichen Legislativrahmen bestimmt, die für die Produktausgestaltung maßgeblichen Details der einzuhaltenden Sicherheits-, Umwelt- und Verbraucheranforderungen werden hingegen im Normungsprozess und damit unter taktgebender Beteiligung der Wirtschaftsakteure selbst erarbeitet.

Hohes Schutzniveau

Im Zuge der Produktharmonisierung ist der europäische Gesetzgeber an die Vorgaben des Artikels 114, Abs. 3 AEUV gebunden: „Die Kommission geht in ihren Vorschlägen […] in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz von einem hohen Schutzniveau aus und berücksichtigt dabei insbesondere alle auf wissenschaftliche Ergebnisse gestützten neuen Entwicklungen.“ Für die EU-Organe besteht somit die Pflicht, im Zuge der Rechtssetzung ein hohes Schutzniveau für die technische Sicherheit von Produkten, Produktionsanlagen und Dienstleistungen zu gewährleisten. Hierbei gilt zu berücksichtigen, dass nach einschlägiger EuGH-Rechtsprechung nicht das höchstmögliche Schutzniveau realisiert werden muss. Insbesondere wirtschaftliche Zielsetzungen können einbezogen werden, um ein angemessen hohes Schutzniveau zu bestimmen. Dies kann dazu führen, dass in einzelnen EU-Staaten im Zuge europäischer Rechtsharmonisierungsmaßnahmen das Produktsicherheitsniveau sinkt, obwohl das Niveau EU-weit angehoben wird.

Vorsorgeprinzip

Einen weiteren wesentlichen Eckpfeiler für die europäische Produktsicherheit bildet das sogenannte Vorsorgeprinzip, das mit der notwendigen Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus eng verknüpft ist. Dieser zunächst für den Umweltbereich (Art. 174 EGV) entwickelte, später aber vom EuGH sowie der EU-Kommission für allgemeingültig erklärte Grundsatz besagt, dass von technischen Produkten potenziell ausgehende Gefahren für Leib und Leben sowie die Umwelt soweit wie möglich vermieden werden sollen, dass also insbesondere im Zuge europäischer Rechtssetzungsmaßnahmen ein optimierter Schutz anzustreben ist. Der Hersteller von Produkten ist in diesen Pflichtenkreis mit einbezogen, da er selbst dafür Sorge zu tragen hat, dass die von seinem Produkt ausgehenden potenziellen Gefahren durch verfügbare technische Vorkehrungen weitestgehend minimiert werden.
Verbraucher- und Gesundheitsschutz

Im Zuge der Harmonisierung der Produktanforderungen ist auch Artikel 12 AEUV im Blick zu halten, der bestimmt, dass den Erfordernissen des Verbraucherschutzes bei der Festlegung und Durchführung der Unionspolitiken und -maßnahmen Rechnung zu tragen ist. Ergänzend hierzu wird die Gemeinschaft durch Artikel 169 AEUV dazu verpflichtet, „zur Förderung der Interessen der Verbraucher und zur Gewährleistung eines hohen Verbraucherschutzniveaus […] einen Beitrag zum Schutz der Gesundheit, der Sicherheit und der wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher“ zu leisten und im Zuge der Rechtsangleichung auf die Verwirklichung dieser Schutzziele hinzuwirken.

Schließlich verlangt auch Artikel 168 AEUV, dass „bei der Festlegung und Durchführung aller Unionspolitiken und -maßnahmen […] ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt“ wird und dass die EU-Organe insbesondere „Maßnahmen zur Festlegung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards für […] Medizinprodukte“ zu ergreifen haben. Dies macht anschaulich, dass die Harmonisierung der Produktanforderungen nicht lediglich der Realisierung der Warenverkehrsfreiheit (Artikel 28 AEUV) dient, sondern dass hiermit zugleich die regulativen Voraussetzungen für technische Sicherheit geschaffen werden müssen.

Grundrechte und Schutzpflichten

Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) bildet nach deutscher Verfassungstradition ein elementares Grundrecht, das nicht nur als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe schützt, sondern darüber hinaus eine Schutzpflicht des Staates auslöst, seine Bürger vor entsprechenden Eingriffen zu bewahren. Im Gemeinschaftsrecht sind vorgenannte Schutzpflichten über die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die nach Art. 6 EU-Vertrag auch von der Union anerkannt wird, zusätzlich abgesichert. Somit muss der europäische Gesetzgeber insbesondere über das Sekundärrecht (VO/ RL) das technische Sicherheitsrecht als Organisationsrahmen so ausgestalten, dass die EU-Bürger vor rechtswidrigen Eingriffen durch unsichere Produkte wirksam geschützt werden.

Herstellerverantwortung und selbstregulativer Ansatz

Unter dem Neuen Ansatz (New Approach) und in dessen Fortführung durch den New Legislative Framework (NLF) hat sich die EU im Bereich der Produktsicherheit mit guten Gründen und im Kern erfolgreich für einen liberalen, innovationsfreundlichen Systemansatz entschieden, der die Herstellerverantwortung für das Inverkehrbringen sicherer Produkte in den Mittelpunkt stellt.

Mit der CE-Kennzeichnung auf dem Produkt erklärt der Hersteller, dass es den grundlegenden Sicherheitsanforderungen der einschlägigen Bestimmungen entspricht. Unter der Dominanz der Warenverkehrsfreiheit findet EU-weit vor dem Inverkehrbringen keine behördliche Produktzulassung im Sinne staatlicher Gewährleistungskontrolle statt, sondern nur eine nachgelagerte stichprobenbeschränkte Marktaufsicht. Es existiert somit in Europa ein vom Vertrauensgrundsatz geprägtes Regulierungsregime.

Nur bei besonders gefahrträchtigen Produkten schreibt das EU-Recht mehr als bloß eine reine Konformitätsbewertung durch den Hersteller vor. Unabhängige Dritte, nämlich die Benannten Stellen (z. B. der TÜVUnternehmen) flankieren dann den Konformitätsbewertungsprozess, wobei der Hersteller auch hierbei Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der Verfahren und folglich der punktuellen Kontrollintensität hat. Die Gemeinschaft setzt somit für die Produktsicherheit nicht auf staatliche Intervention, sondern auf organisatorische und technische Kompetenz sowie Effizienz der agierenden Privatrechtssubjekte mit ihrem interdisziplinären Sachverstand und höchster Sachnähe.

Grenzen des Vertrauensgrundsatzes

Mit diesem liberalen, kooperativen Systemansatz kann aber nicht gemeint sein, dass sich der europäische Gesetzgeber aus seiner Gewährleistungsverantwortung für technische Produktsicherheit vollständig zurückziehen darf. Vielmehr hat er einen klar konturierten regulativen Rahmen zu schaffen, um das Zusammenspiel der Marktakteure so zu steuern, dass die in Europa geforderte Produktsicherheit in sensiblen Bereichen durch den Hersteller auch hinlänglich transparent und letztlich belastbar nachgewiesen wird.

Denn gegen nicht regelkonforme Produkte, die der Hersteller vorsätzlich pflichtwidrig auf den Markt bringt, bietet das Produkthaftungsrecht für Geschädigte im Ergebnis keinerlei effizienten Schutz, weil die Versicherungen der Hersteller bei Vorsatz des Versicherungsnehmers nicht einzustehen haben. Das Grundprinzip der Selbstkontrolle ist somit kompensatorisch in einer Weise auszugestalten, dass unabhängige Fremdkontrollen durch akkreditierte Prüforganisationen das Vertrauen der EU-Bürger in die selbstregulativen Kräfte der Wirtschaft stärken und schützen. Durch unabhängige Drittprüfungen wird nach diesem Regulierungsansatz die ansonsten unverzichtbare ordnungsbehördliche Kontrolle der Sache nach substituiert. Die systemgerechte Einbindung unabhängiger Dritter garantiert letztlich die angemessene Berücksichtigung von Gemeinwohlbelangen, trägt sie doch dem Bedürfnis nach verlässlicher, zugleich aber auch verhältnismäßiger Nachweisführung rechts- und regelkonformen Verhaltens des Herstellers Rechnung.

Für den Bereich der europäischen Produktsicherheit bedeutet dies, dass für Produktkategorien mit hohen Schadenrisiken die Einführung externer Nachweispflichten als regulatives Element verschärft in den Fokus genommen werden muss. Der verbindliche legislative Ordnungsrahmen muss sowohl die Zielvorgaben für die privaten Akteure klar bestimmen als auch die verfahrenstechnischen Prozesse der Fremdkontrolle klar und verbindlich definieren. Es ist sicherzustellen, dass die seitens der Benannten Stellen für besonders risikoträchtige Produkte anzuwendenden Konformitätsbewertungsmodule eine europaweit einheitliche, effiziente Kontrolle ermöglichen. Das heißt, diese obligatorischen Kontrollmaßnahmen müssen von der Prüfung des Produktbaumusters in Verbindung mit der regelmäßigen und unangekündigten Fertigungsstättenüberwachung einschließlich Produktkontrollen am Band bis hin zu obligatorischen regelmäßigen Stichproben im Markt befindlicher Produkte reichen, um die unverzichtbare Kontrollnähe zum Endprodukt abzusichern. Der EU-Gesetzgeber sollte daher verstärkt den bewährten staatsentlastenden Beitrag der unabhängigen Drittprüfung nutzen, um die mit Blick auf eine flächendeckende Kontrolle aufgrund knapper Ressourcen überforderten Marktüberwachungsbehörden angemessen zu entlasten.

Ein präventives Sicherheitsnetz für Europa

Dem Verband der TÜV obliegt die Aufgabe, im offenen Diskurs mit den politischen Entscheidungsträgern darauf hinzuwirken, dass die staatsentlastenden und zugleich mit dem Schutz- bzw. Gewährleistungsauftrag der Gemeinschaft eng korrespondierenden Leistungspotenziale der technischen Prüforganisationen durch einen entsprechend ausgelegten Rechtsrahmen effizient zu nutzen und auf regulativer Ebene einzubringen. Hierbei kommt es darauf an, unter umfassender Bewertung der jeweiligen produktspezifischen Risikopotenziale ein verantwortungsvoll austariertes Maß zwischen der den Binnenmarkt tragenden Warenverkehrsfreiheit und notwendigen Nachweismechanismen auf Basis unabhängiger Drittprüfungen zu finden.

Der VdTÜV verfolgt das Ziel, ein präventives Sicherheitsnetz für besonders risikoträchtige technische Produkte als festen Bestandteil des europäischen Wirtschaftsund Wertesystems zu etablieren. Der Binnenmarkt kann sich nicht ausschließlich an freiheitsimmanenten Vermarktungsinteressen orientieren, sondern muss in sensiblen Produktbereichen zum Wohle der EU-Bürger auch den verlässlichen vorbeugenden Schutz elementarer Rechtsgüter bei der Ausgestaltung des regulativen Rahmens als maßgebliche Richtschnur integrieren. Die TÜV-Unternehmen und ihr Verband stehen bereit, für eine austarierte Sicherheitskultur in Europa ihren wertschöpfenden Beitrag zu leisten. Denn technische Sicherheit bietet Lebensqualität und ist deshalb für eine moderne Gesellschaft unverzichtbar.